19 Oct
19Oct

Alles begann an einem sonnigen Tag, als mein Sohn, damals knapp sieben Jahre alt, plötzlich beschloss, mit einem aus dem Bahnhof herausfahrenden ICE um die Wette zu laufen. Während der Zug Fahrt aufnahm, setzte auch mein Sohn zu einem Sprint an. In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken: „Gefahr! Gefahr!“ Ich rief ihm zu, er solle stehen bleiben. Aber wenn mein Sohn sich etwas in den Kopf setzt, dann zieht er es durch. Der Zug wurde schneller, mein Sohn ebenfalls. Die Panik in mir wuchs. Ich sah schreckliche Bilder vor mir – Schlagzeilen über Unfälle mit Kindern, die von Zügen erfasst wurden. Ohne nachzudenken, rannte ich los, um ihn zu stoppen. Ich packte ihn und hielt ihn fest, aber was dann folgte, war für mich unerwartet: Er begann zu schreien, wehrte sich, wollte sich befreien. Ich spürte seine Wut, seine Verzweiflung, und alles eskalierte. Die Menschen auf dem Bahnsteig sahen uns an, während ich versuchte, meinen Sohn zu beruhigen, erfolglos.

Dieses Ereignis markierte den Beginn einer schwierigen Phase in unserem Leben. Es war eine Zeit voller Wutanfälle, Missverständnisse und Spannungen zwischen mir und meinem Sohn. Ich selbst war erschöpft, stand kurz vor einem Burnout, ausgelaugt von der Arbeit und den täglichen Anforderungen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass sich etwas ändern musste – nicht nur in meinem Umfeld, sondern vor allem in mir. 

Der Wendepunkt: Achtsamkeit entdecken

Der erste Schritt auf meiner Reise war die Erkenntnis, dass ich nicht nur auf die Herausforderungen meines Kindes reagieren konnte, sondern auch auf meine eigenen. Ich begann, mich mit Achtsamkeit und Meditation auseinanderzusetzen. Was mir am Anfang fremd und ungewohnt erschien, entwickelte sich zu einer wichtigen Praxis in meinem Alltag. Durch Achtsamkeit lernte ich, meine Gedanken bewusster wahrzunehmen, anstatt mich von ihnen überwältigen zu lassen. Ich erkannte, dass meine Panik und mein überstürztes Handeln an jenem Tag am Bahnhof durch meine eigenen Gedanken und Ängste genährt wurden. Diese innere Stimme, die mir Schreckensszenarien vor Augen führte, hatte mich dazu gebracht, hektisch und impulsiv zu reagieren. Doch Achtsamkeit lehrt uns, zwischen Reiz und Reaktion einen Raum zu schaffen. Diesen Raum nutzen wir, um innezuhalten und bewusst zu handeln, anstatt reflexartig zu reagieren.

Mein Weg zur Gelassenheit

Mit der Zeit entdeckte ich, dass Achtsamkeit nicht nur mein eigenes Leben veränderte, sondern auch die Beziehung zu meinem Sohn. Ich lernte, ruhiger und gelassener mit schwierigen Situationen umzugehen. Die Wutanfälle und der Stress, die einst unseren Alltag bestimmten, wurden weniger. Ich begann, mich auch in anderen Bereichen weiterzubilden – als Mentalcoach und Entspannungspädagogin für Kinder. Ich setzte mich intensiv mit den Herausforderungen auseinander, die Kinder oft mitbringen: Willensstärke, oppositionelles Verhalten, Hochsensibilität ADHS und v.a. Diese Themen erforderten nicht nur Wissen, sondern auch eine achtsame, geduldige Haltung. Es war ein langer Prozess des Lernens und Wachsens, der sich jedoch gelohnt hat.

Ein achtsames Miteinander

Heute, sechs Jahre nach dem Vorfall am Bahnhof, ist vieles anders. Mein Sohn und ich haben gemeinsam einen Weg gefunden, der auf gegenseitigem Verständnis und Achtsamkeit beruht. Wenn es einmal schwierig wird und er zu mir sagt: „Mama, jetzt atmen wir einmal zusammen,“ weiß ich, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen habe. Dieser kleine Satz ist für mich der größte Erfolg – er zeigt, dass mein Sohn gelernt hat, in stressigen Momenten innezuhalten und bewusst zu handeln, anstatt impulsiv zu reagieren.

Was ich aus dieser Reise gelernt habe

Die wichtigste Lektion auf meiner Reise war es, die Macht meiner eigenen Gedanken zu verstehen. Gedanken erzeugen Gefühle, und diese wiederum beeinflussen unsere Handlungen. Wenn wir uns dieser Dynamik bewusst werden, können wir unsere Reaktionen ändern und unser Familienleben nachhaltig verbessern. Achtsamkeit ist ein wertvolles Werkzeug, das uns hilft, Stress zu bewältigen, Gelassenheit zu entwickeln und unsere Beziehungen zu stärken. Als Eltern haben wir die Möglichkeit, durch unser eigenes Verhalten ein Vorbild für unsere Kinder zu sein – und ihnen zu zeigen, wie ein achtsames Leben aussehen kann.

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